tl;dr (Lesezeit (5-10 Minuten)

  • Samir Patil ist Gründer der indischen Medienplattform Scroll.in.
  • Der indische Markt ist einer der letzten, in denen die Auflagen gedruckter Zeitungen noch wachsen.
  • Wegen der steigenden Zahl von Smartphonenutzern setzt Scroll.in dennoch auf online.
  • Patil hält soziale Netzwerke als Recherchequelle für überbewertet. Die journalistische Arbeit vor Ort könnten sie nicht ersetzen.
  • Die Branche werde in Zukunft vor einer Kluft stehen. “Auf der einen Seite wird der Qualitätsjournalismus stehen, auf der anderen Seite Dinge wie Listicles.”

Samir Patil sw

Er sei kein Vollblutjournalist, betont Samir Patil im Gespräch mit OSK – er sei Verleger. Daher überrascht es kaum, dass der 45-Jährige immer wieder auf die unternehmerischen Perspektiven verweist, welche die indische Medienlandschaft derzeit bietet. „Der Markt ist vielversprechend, es wird viel investiert“, resümiert er. Die Medienszene befände sich im Umbruch, das würde Raum schaffen für „junge, neue Gesichter, Stimmen und Formate“.

Patil hat ein Händchen für neue Formate: 2007 rettete er Indiens größten Comicverlag vor dem Untergang. Er verhalf dem strauchelnden Giganten zu alter Größe, indem er dessen Fokus auf das Digital- und Fernsehgeschäft verlagerte. 2013 gründete er Scroll.in, eine rein digitale Medienplattform, die sich auf indische Politik und Kultur konzentriert. Die Idee sei ihm schon etliche Jahre zuvor gekommen, als er Verlage und Fernsehsender in New York City beriet, erzählt Patil. „Von den USA aus konnte ich die indische Medienlandschaft mit dem nötigen Abstand beobachten. Das war erhellend, aber auch frustrierend. Es war offensichtlich, dass es keine Stimme der Vernunft gab.“ Ein Medium, das objektiv und gelassen berichtete, das Dialog ermöglichte, fehlte in Indien. Diese Lücke sollte Scroll.in schließen.

Der indische Markt ist einer der letzten, in denen die Auflagen gedruckter Zeitungen noch wachsen. Zum einen geht der Kaufpreis für eine Zeitung gegen null, sodass sie auch für ärmere Bevölkerungsschichten erschwinglich sind. Zum anderen seien (Lokal-)Zeitungen laut Patil nicht im selben Ausmaß von Kleinanzeigen abhängig, wie es in Europa oder den USA der Fall ist. Viel öfter würden große Anzeigen, auch von der Regierung, geschaltet. Scroll.in ist dennoch ein digitales, mobile-orientiertes Produkt. Der Grund: Die Zahl der Smartphone-Nutzer steigt noch rasanter als die der Zeitungsleser – außerdem hält Samir Patil Print für eine Sackgasse. Im Interview mit OSK spricht er darüber, wie guter Online-Journalismus entstehen kann und warum es dennoch ratsam ist, auch außerhalb des Internets zu recherchieren.

Samir Patil
Gründer Scroll.in

Twitter: @samirpatil
LinkedIn: Samir Patil

1. Wie zeichnet sich Qualitätsjournalismus in Zukunft aus und was schadet ihm?

Es sind verschiedene Dinge, die Qualitätsjournalismus auszeichnen: Erstens sollten Journalisten in der Lage sein, aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu berichten. Sie müssen die Augen und Ohren der Öffentlichkeit sein. Zweitens benötigen sie die notwendige Expertise und Erfahrung, um die richtigen und wichtigen Dinge zu analysieren. Drittens ist es absolut notwendig, die Vielfalt der Medienlandschaft aufrechtzuerhalten. Wir brauchen globale, nationale und lokale Medien, um genau die Nachrichten bringen zu können, auf die es ankommt. Gerade der Lokaljournalismus wird heute immer häufiger unterschätzt.

Das Problem ist, dass es teuer ist, journalistisch zu arbeiten, Schauplätze zu besuchen und vor Ort zu berichten. Verlage brauchen robuste Geschäftsmodelle, um all das finanzieren zu können. Das gilt auch für den zweiten Punkt, den ich angesprochen habe: Wir brauchen Journalisten, die genug Erfahrung mitbringen. Zurzeit gibt es zu viele hysterisch verkürzte Nachrichten im Netz. Früher gab es große Teams, die ausschließlich Informationen prüften und Inhalte diskutierten, bevor ein Artikel veröffentlicht wurde. Diese Teams brauchen wir heute mehr denn je, wenn wir Hysterie vermeiden wollen. Und dann dürfen wir auch die Frage nach dem Nachwuchs nicht vernachlässigen. Wie wollen wir die nächste Generation von Journalisten ausbilden, ihnen die nötigen Handgriffe beibringen und sie in Themengebiete einführen? Wer sollen ihre Mentoren sein? Wir brauchen gute Geschäftsmodelle, um all das zu tun.

Die Verbreitung von Informationen wird demokratischer.

2. Was sind die großen Trends im Journalismus und was wird sich davon künftig durchsetzen?

Die Verbreitung von Informationen wird demokratischer. Das ist gut. Es ist heutzutage sehr schwer, einen Journalisten zum Schweigen zu bringen. Wenn eine Zeitung sich gegen eine Geschichte entscheidet, entscheidet sich eine andere vielleicht dafür. Oder der Journalist veröffentlicht sie auf Facebook. Zensur wird immer schwieriger – selbst in den Ländern, in denen es in dieser Hinsicht derzeit am schlechtesten aussieht.

Gleichzeitig wird immer weniger Wert auf eine solide Berichterstattung gelegt, und Nachwuchsjournalisten werden oft nicht gut genug ausgebildet. Ich sehe viele Jungjournalisten, die wenig Erfahrung haben, was zum Beispiel die Recherche angeht. Sie wissen nicht, wie wichtig es ist, mit ihren Quellen zu sprechen. Stattdessen verlassen sie sich auf Informationen, die sie im Netz finden. Das macht die Nachrichten schlechter.

3. Wie und wo recherchieren Sie nach guten und spannenden Inhalten?

Die Journalisten, die bei uns arbeiten, haben sehr viel Erfahrung. Sie haben ihre eigenen Quellen, weil sie oft schon lange in einem bestimmten Feld tätig waren. Da sind wir ziemlich traditionell aufgestellt. Unsere Redakteure und Reporter kennen das Internet: Sie nutzen Tools wie Google Analytics und sind sich der Bedeutung von Klickzahlen bewusst, aber der Journalismus steckt in ihrer DNA. So schaffen wir es, journalistisch bedeutsame Dinge zu tun und gleichzeitig die Nutzerstatistiken im Auge zu behalten.

Die zweite Hälfte der Antwort ist, dass wir einige Werkzeuge bei Scroll.in geschaffen haben, die uns produktiver machen. Da wäre beispielsweise „SocialWire“. Dieses Instrument durchforstet die sozialen Netzwerke nach wichtigen Tweets und Geschichten. Wir brauchen gar kein riesiges Team von Redakteuren. Wir wollen ein kleines Kernteam, das die traditionellen Werte des Journalismus vertritt. Und dieses Team machen wir stärker, mit hervorragenden Anwendungen wie SocialWire oder unserem Content-Management-System, das wir komplett selbst programmiert haben.

Dabei sind die sozialen Netzwerke überwertet – zumindest zurzeit. Sie sind hilfreich, was die Verteilung von Inhalten und das Entdecken von Themen angeht. Aber insgesamt denke ich, dass Menschen ihnen zu viel Bedeutung zuschreiben. Sie sind eine gute Quelle für Kommentare und Meinungen, aber sie ersetzen nicht die Arbeit vor Ort, über die ich eingangs gesprochen habe.

4. Was muss man als Journalist künftig tun und können, um gelesen und wahrgenommen zu werden?

Das Gute ist, dass qualitativ hochwertiger Journalismus sich durchsetzen wird. Wenn die New York Times ihre Journalisten in das Epizentrum des Ebola-Ausbruchs schickt, dann werden die Menschen die Geschichten lesen – nicht zuletzt, weil die Zeitung so eine große Reichweite hat. Eine gute Geschichte wird also gelesen. Das Schlechte ist, dass eine solche Geschichte Geduld braucht, Geld um zu reisen und ein Geschäftsmodell, auf dem sie fußen kann. Ich glaube, wir werden in Zukunft vor einer Kluft stehen. Auf der einen Seite wird der Qualitätsjournalismus stehen, auf der anderen Seite Dinge wie Listicles. Mittelgute Inhalte werden sich nicht durchsetzen können.

// Über #ZukunftDesJournalismus

Mobiles Internet, immer leistungsfähigere Smartphones, neue Nachrichtendienste: Die Medienlandschaft verändert sich rasant und mit ihr der Journalismus. Viele Fragen bewegen die Branche: Ist die Tageszeitung ein Auslaufmodell, weil die jüngeren Zielgruppen aktuelle Nachrichten nur noch auf mobilen Endgeräten konsumieren? Erledigen bald Schreibroboter typische Routineaufgaben und machen damit einen Teil der Redakteure überflüssig? Mit welchen neuen journalistischen Darstellungsformen können Menschen erreicht werden, die immer weniger lesen und nur noch Bilder anschauen? Gemeinsam mit Journalisten und Medienmachern aus ganz unterschiedlichen Richtungen wagt OSK einen Blick in die Zukunft des Journalismus. Das Prinzip ist immer das gleiche: acht Fragen, acht Antworten. Stück für Stück entsteht so ein Bild, das belastbare Aussagen zu entscheidenden Trends von morgen und übermorgen ermöglicht.

5. Die technologischen Veränderungen sind rasant – wie müssen sich vor diesem Hintergrund der Journalismus verändern und dessen Anbieter anpassen?

Diese Frage ist wirklich wichtig. Journalisten können sich heute viel besser auf Recherchen vorbereiten, wenn sie Social Media oder Google nutzen. Sie können im Internet auch nach guten Geschichten suchen. Aber Journalisten müssen lernen, Social Media mit Bedacht als Recherche-Quelle zu benutzen.

Nicht nur unsere Recherchewege verändern sich, sondern auch die Art und Weise, mit der wir Themen behandeln. Wir haben Fernsehen, Print und Radio zu lange als isoliert arbeitende Einheiten betrachtet. In Zukunft müssen Journalisten multimedial arbeiten können. Sie werden nicht alles gleich gut können, aber das macht nichts. Es wird nicht mehr darum gehen, was sie am besten können – es wird darum gehen, in welcher Form die Geschichte am besten funktioniert. In der Berichterstattung um den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf funktioniert eine animierte Grafik besser als ein langer Text, der den Wahlausgang nur nacherzählt. Die richtige Form wird in Zukunft mindestens genau so wichtig wie der Inhalt sein.

6. Wie verdient der Großteil der Medien künftig Geld?

Der Großteil der Medien wird weitermachen wie bislang: mit Werbung. Werbung bleibt – und steht ebenso wie der Journalismus vor einer großen Herausforderung. Sie muss spannend bleiben, sonst blättern bzw. klicken Leser weiter.

Wir werden in Zukunft noch mehr Bezahlmodelle sehen. Netflix und iTunes haben gezeigt, dass Menschen bereit sind, für gute Inhalte Geld auszugeben. Ich glaube jedoch, dass sie nicht bereit sind, für reine Nachrichten zu bezahlen. Die erhalten sie anderswo kostenlos. Es werden also vor allem die Nachrichtenmedien sein, die ihre Geschäftsmodelle überdenken müssen. Wir werden in Zukunft viel Werbung sehen, aber auch interessante Produkte, die kostenpflichtig sind.

Die indische Medienlandschaft wächst in allen Bereichen.

7. Wie sehen Ihrer Ansicht nach journalistische Inhalte und die Angebotslandschaft in fünf Jahren aus?

Es wird viele Zusammenschlüsse geben. Größere Verlage werden vor allem die Medienhäuser übernehmen, die im Nachrichtengeschäft tätig sind. Die New York Times, die im eigenen Verlag erscheint, ist eine Ausnahme. Es gibt viele unabhängige europäische Zeitungen, aber sie sind zu klein, um profitabel zu sein. Gerade für Nachrichtenmedien wird es sehr schwer sein, in Zukunft unabhängig zu bleiben. Nachrichten sind wichtig – jeder liest Nachrichten. Aber damit Geld zu verdienen wird ein Problem. Insofern glaube ich, dass Nachrichten künftig vor allem Teil eines Portfolios sein werden. Ein wichtiger Teil, aber eben auch nur ein Teil.

Die indische Medienlandschaft sieht allerdings ganz anders aus. Sie wächst in allen Bereichen. Online nimmt rasant zu, aber die Printmedien und das Fernsehen verbuchen ebenfalls steigende Auflagen- und Zuschauerzahlen. Das alles passiert, weil die Einkommen in Indien steigen. Immer mehr Menschen können sich Kabelfernsehen leisten. Immer mehr lernen lesen. In der Werbung müssen wir noch aufholen. In Zeitungen und im Fernsehen hatte Werbung schon immer eine große Bedeutung, aber online hängen wir hinterher. Der Markt ist da, aber er muss noch erschlossen werden.

Was die indische Medienlandschaft ausmacht, ist ihre Sprachenvielfalt. Da es so viele Sprachen gibt, sind regionale Verlage und Unternehmen wichtig. Auch der englische Markt ist größer als in vielen anderen Ländern. Ich denke, in Indien wird in den kommenden Jahren viel investiert werden. Keiner kann genau sagen, wie der Markt aussehen wird. Aber aus einer unternehmerischen Perspektive ist es sehr vielversprechend. Die großen Medienhäuser hier werden vor denselben Aufgaben stehen wie die im Westen. Das schafft Raum für junge, neue Gesichter, Stimmen und Formate. Es könnte neue Comedy Shows geben, die ausschließlich auf YouTube laufen und ganz anders sind als das, was wir aus dem Fernsehen kennen. Wir haben jetzt die Chance, Dinge anders zu machen. Neue Dinge zu schaffen, die vorher nicht möglich waren, weil die indische Medienlandschaft zu zersplittert oder es zu teuer war oder beides. Jetzt ist die Gelegenheit da, es zu tun.

8. Welches Medium fehlt heute noch auf dem Markt?

Eigentlich ist der Markt sehr gesättigt. Es gibt schon alles. Was fehlt, sind die Inhalte. Mir fehlt also kein Medium, aber ich würde mir mehr Ernsthaftigkeit und Qualität wünschen.

Über den Autor

Carsten Christian ist studierter Journalist und Kommunikationswissenschaftler, seinen Master-Abschluss hat er an der Uni Hamburg gemacht. Bevor er zur Agentur kam, war der Digital Native mehr als zwei Jahre für die Online- und Print-Ausgabe der Ruhr Nachrichten im Einsatz. Bei OSK arbeitet er als Team Lead Digital Content, auf dem Agentur-Blog schreibt Carsten über den Medienwandel und Trends im Bereich Digital-Kommunikation. Privat verfolgt er Neuigkeiten in der Videospiel- und Gaming-Szene und greift auch selbst zu Maus und Gamepad.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.