tl;dr

  • Während die Bedeutung der Homepage bei vielen Medienunternehmen abnimmt, wachsen die Direktzugriffe auf ZEIT ONLINE.
  • Jochen Wegner, Chefredakteur von ZEIT ONLINE, betont, wie wichtig es ist, sich unvoreingenommen auf Neuheiten einzulassen, ggf. auch auf Native Advertising.
  • Vor zehn Jahren seien sich Online-Angebote in Deutschland noch relativ ähnlich gewesen. Heute zahle es sich vor allem aus, sich zu unterscheiden.
  • Besonders Medien, die experimentierfreudig sind, bleiben laut Wegner am Markt erhalten.
  • Wenn es um die Finanzierung von Medien geht, glaubt Wegner an ein Zusammenspiel vieler Kanäle: “Die Branche hat lange nach dem nächsten, großen Ding gesucht. Wahrscheinlich kommt es nicht.”

Jochen WegnerDie Homepage ist tot, es lebe die Homepage. Während einige noch immer den Untergang der klassischen Startseite prophezeien, beweist ZEIT ONLINE, dass Desktop-Homepages auch in Zeiten von Facebook, Twitter und LinkedIn Pulse wachsen können. Der jüngste Relaunch des Online-Portals hat die klassische Homepage wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt – mit einer klaren Struktur, einer reduzierten Navigationsleiste und einem opulenten Aufmacher. Die Nutzerzahlen steigen, und zwar rasant: Konnte die Website laut IVW im Jahr 2014 durchschnittlich gut 13.400.000 Homepage-Visits pro Monat verbuchen, waren es im darauffolgenden Jahr bereits über 14.400.000.*

Jochen Wegner, Chefredakteur von ZEIT ONLINE, hat den Umbau verantwortet – und ist heute froh, seiner einstigen Prognose über den Tod der Homepage damals nicht getraut zu haben. Nicht zuletzt deshalb sei er zurückhaltender geworden, was Prognosen zur Zukunft des Journalismus angeht, erklärt er im Gespräch mit OSK. Zu oft habe er Thesen geäußert, die „irgendwann einmal korrekt waren, aber auch irgendwann wieder falsch“.

Mit Entwicklungen, die keinen erkennbaren Regeln folgen, kennt Wegner sich aus: Der studierte Physiker und Philosoph erforschte die Chaostheorie des Gehirns und hat ein Buch darüber geschrieben, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Unwahrscheinliche geschieht („Warum immer ich?“). Und auch für die Zukunft der Medien beweist der 46-Jährige großes Gespür. Als Chefredakteur von Focus Online hat Wegner die Website zu einem der am schnellsten wachsenden Nachrichtenportale im Netz entwickelt und mit mag10 Publishing ein Start-up für Kreation und Vertrieb von Tablet-Medien gegründet. Als Kopf von ZEIT ONLINE hat er Formate wie das Live-Dossier entwickelt, eine Art langsames Liveblog – eine Antwort auf den Wunsch seiner Leser nach mehr Tiefe in der Onlineberichterstattung.

Im Gespräch mit OSK betont Wegner immer wieder, wie wichtig es sei, sich unvoreingenommen auf Neuheiten einzulassen – auch auf Entwicklungen wie Native Advertising, die in der Branche nicht unumstritten sind. Dabei wird deutlich: Wegner geht es um nichts Geringeres, als die Balance zu finden – zwischen der gigantischen Aufgabe, das Geschäftsmodell Journalismus zu sichern, und dem Anspruch, dessen Seele und Glaubwürdigkeit zu erhalten.

Jochen Wegner
Chefredakteur ZEIT ONLINE

Twitter: @Jochen
Facebook: Jochen Wegner
Instagram: jochenjochen
Xing: Jochen Wegner
LinkedIn: Jochen Wegner
Snapchat: jochenjochen

Jochen Wegner 2

Foto: ZEIT ONLINE

1. Wie zeichnet sich Qualitätsjournalismus in Zukunft aus und was schadet ihm?

Qualitätsjournalismus ist Journalismus – die Unterscheidung ergibt für mich keinen Sinn. Journalismus ist, wenn jemand sich ehrlich bemüht, eine Geschichte wahrheitsgemäß zu erzählen. Egal in welchem Medium. Vor Jahren wurde etwa darüber gestritten, ob Blogger Journalisten sein können. Dieser Streit ist zum Glück überholt.

Und dennoch definiert sich der Journalismus gerade neu. Ich verfolge mit Interesse die Debatte um den Unterschied zwischen Redaktionen, die Journalismus machen, und Redaktionen, die dafür bezahlt werden, Unternehmen gut aussehen zu lassen. Der Unterschied ist fundamental. Wenn ein Wasserversorgungsunternehmen ein Medium zu Wasser finanzieren würde, wäre das kein Journalismus. Da gäbe es Denkverbote. Es ist immer problematisch, wenn ein Auftraggeber mit bestimmten Interessen die Berichterstattung im Interessengebiet finanziert. Erst wenn man die Firma im von ihr finanzierten Medium auch angreifen dürfte, würde es vielleicht interessant.

Die Diskussion um Native Advertising hat dazu geführt, dass sich auch große Redaktionen mit der Frage beschäftigen müssen, ob es neben dem Journalismus etwas geben darf, was Journalismus nur imitiert. Viele große internationale Medien haben schon eine Antwort gegeben und Einheiten für Native Advertising aufgebaut. Ich denke, dass wir das langfristig auch tun müssen. Die Kollegen bei ze.tt, unserem Angebot für jüngere Leser, erarbeiten gerade, wie man mit derlei bezahlten Inhalten umgehen soll. Wir bei ZEIT ONLINE trauen uns das im Moment noch nicht, zumindest nicht im gleichen Umfang. ze.tt ist für uns ein Test. Wir wollen sehen, ob das geht, ohne dass man dabei seine Seele verliert.

2. Was sind die großen Trends im Journalismus und was wird sich davon künftig durchsetzen?

Die Online-Medien differenzieren sich derzeit stark aus, wie vielleicht vor einem halben Jahrhundert die Printmedien. Vor zehn Jahren waren Online-Angebote in Deutschland sich noch relativ ähnlich. Alle haben versucht, Spiegel Online oder BILD zu sein. Das ist heute anders. Heute suchen die Leser auch im Netz klare Marken mit einer eigenen Tonart und einer erkennbaren Haltung. Das führt dazu, dass Medien wie wir stark wachsen – obwohl unser Markenkern, das Komplizierte, Nachdenkliche und Ausführliche, eher ungeeignet ist für den digitalen Journalismus der alten Schule. ZEIT ONLINE ist derzeit eines der am stärksten wachsenden Angebote. Je mehr wir uns differenzieren, desto besser funktionieren wir.

Das wiederum hängt sehr stark zusammen mit der wachsenden Rolle von Social Media, und dort hauptsächlich Facebook. Bei uns ist nicht der Katzen-Content erfolgreich, es sind unsere langen, eigenständigen Geschichten. Die sind oft nicht besonders lustig. Aber es ist eben unser Sound, und offensichtlich ist es genau das, was das Netz derzeit belohnt. Leute teilen am liebsten Dinge, die eigenständig und neu sind. Niemand teilt die fünfzigste, identische Meldung zu einem Thema. Vor wenigen Jahren hat Wachstum im Netz noch anders funktioniert, denn da hat Google das Ökosystem noch alleine dominiert.

Google News war lange eine Maschine, die Me-too-Journalismus belohnt, und ist es vom Ansatz her bis heute, deshalb arbeiten wir gemeinsam mit Google an einer Verbesserung des Algorithmus. Wenn alle über Merkel in Kreuth schreiben, erscheint das Thema in Google News. Eine eigenständige Recherche hingegen hat es schwer. Es sei denn, alle erzählen die exklusive Geschichte nach – dann landen gerne die Nacherzählungen oben, nicht die Quelle. Insofern haben die sozialen Netzwerke den digitalen Journalismus fundamental verändert, und zwar zum Besseren.

Die Themen kommen zu mir.

3. Wie und wo recherchieren Sie nach guten und spannenden Inhalten?

Die Themen kommen zu mir. So schrecklich sie ist, so großartig ist die Filter Bubble. Ich weiß, dass etwas automatisch meinen Filter passiert, wenn es auch nur halbwegs in meinem Interessengebiet liegt. Wenn irgendwo eine relevante Debatte entsteht, die mich interessiert, dann kann ich mich darauf verlassen, dass ich das in den ersten Minuten oder Stunden mitbekomme, immer bessere Tools helfen mir dabei. Der Rest ist klassisch: Ich lese immer noch einige hundert Feeds, ein Dutzend gebündelte Medien und erstaunlich viele Bücher, spreche mit Leuten, besuche Veranstaltungen, lebe.

4. Was muss man als Journalist künftig tun und können, um gelesen und wahrgenommen zu werden?

Mich unterscheiden und klar machen, warum es wichtig ist, ausgerechnet mich wahrzunehmen. Und dahin gehen, wo die Leser hingehen. Wenn die Leser auf Facebook oder mit mobilen Geräten unterwegs sind oder bei Snapchat oder Instagram, dann müssen wir da eben auch sein. Egal, ob dort schon ein Geschäftsmodell existiert oder nicht.

Im Moment haben wir – so intensiv wie schon lange nicht mehr – eine Plattform-Debatte. Alle Großen versuchen zurzeit, die führende Medienplattform zu werden: Facebook etwa mit Instant Articles, Google etwa mit AMP (Accelerated Mobile Pages), Apple etwa mit News. Auch Twitter bringt alle paar Tage ein neues Feature für Medien heraus, um weiterhin der führende Medienkanal zu bleiben. Es ist noch recht neu für uns, dass jetzt um uns gebuhlt wird. Die Plattformen suchen den direkten Dialog und fragen, wie sie ihre Features besser entwickeln können, damit wir dort vertreten sind. Gleichzeitig haben wir natürlich große Angst davor, abhängig zu werden. Trotzdem glaube ich, dass wir hingehen müssen, wo die Reichweite wächst – wie derzeit beispielsweise auf Snapchat.

// Über #ZukunftDesJournalismus

Mobiles Internet, immer leistungsfähigere Smartphones, neue Nachrichtendienste: Die Medienlandschaft verändert sich rasant und mit ihr der Journalismus. Viele Fragen bewegen die Branche: Ist die Tageszeitung ein Auslaufmodell, weil die jüngeren Zielgruppen aktuelle Nachrichten nur noch auf mobilen Endgeräten konsumieren? Erledigen bald Schreibroboter typische Routineaufgaben und machen damit einen Teil der Redakteure überflüssig? Mit welchen neuen journalistischen Darstellungsformen können Menschen erreicht werden, die immer weniger lesen und nur noch Bilder anschauen? Gemeinsam mit Journalisten und Medienmachern aus ganz unterschiedlichen Richtungen wagt OSK einen Blick in die Zukunft des Journalismus. Das Prinzip ist immer das gleiche: acht Fragen, acht Antworten. Stück für Stück entsteht so ein Bild, das belastbare Aussagen zu entscheidenden Trends von morgen und übermorgen ermöglicht.

5. Die technologischen Veränderungen sind rasant – wie müssen sich vor diesem Hintergrund der Journalismus verändern und dessen Anbieter anpassen?

Wir müssen spielen. Andauernd erscheinen Neuheiten wie AMP oder Instant Articles. Jedes Mal stellen wir uns die Frage, ob das interessant und relevant ist. Ich habe gelernt, dass es relativ sinnlos ist, darüber zu reden, große Vorträge zu halten und politische Statements abzugeben. In der Regel ist es hilfreich, sich die Dinge kurz anzuschauen und direkt auszuprobieren. Zu sehen, ob es die User interessant finden, ob es uns hilft oder schadet – und danach zu entscheiden.

Wir brauchen also Medien, die in der Lage sind, sehr schnell solche neuen Dienste zu probieren und auch wieder auszuspucken, wenn sie uns nicht schmecken – um sie gegebenenfalls ein Jahr später noch einmal zu probieren. Dieses Spielerische ist wichtig. Es bedeutet, nicht immer gleich ein riesiges Ding daraus zu machen, wenn mal eine neue Option um die Ecke kommt. Man muss daran arbeiten, Prozesse intern so aufzusetzen, dass nicht alles zum Jahresprojekt wird. Nur so kann man effektiv herausfinden, ob ein neues Feature für einen interessant ist.

Die Branche hat lange nach dem nächsten, großen Ding gesucht. Wahrscheinlich kommt es nicht.

6. Wie verdient der Großteil der Medien künftig Geld?

Nicht mit dem nächsten großen Ding, sondern mit einem Kleintierzoo von Erlösmodellen, die ein bisschen schwierig zu pflegen sind. Manchmal büxt eins aus und man muss sich darauf konzentrieren, es wieder einzufangen. Wir sind bislang erfreulich erfolgreich damit, nicht nur auf eine Erlösquelle zu vertrauen. Wir haben sicher Dutzende von digitalen Erlösströmen, fünf bis sechs davon sind wirklich relevant, neben Anzeigen etwa auch verschiedene Marktplätze. Das ist komplex, aber in der Summe funktioniert es. Die Branche hat lange nach dem nächsten, großen Ding gesucht. Wahrscheinlich kommt es nicht.

7. Wie sehen Ihrer Ansicht nach journalistische Inhalte und die Angebotslandschaft in fünf Jahren aus?

Online-Journalisten werden oft aufgefordert, etwas zur Zukunft der Medien zu sagen, auch ich halte schon eine ganze Weile Vorträge dazu. Im Laufe der Zeit habe ich bemerkt, dass alle meine Thesen irgendwann einmal korrekt waren, aber auch irgendwann fast alle wieder falsch. Das Beste, was man machen kann – denn wir müssen ja tatsächlich jeden Tag arbeiten, uns am Leben halten und möglichst guten Journalismus machen – ist, eine gewisse Demut gegenüber der Zukunft zu entwickeln. Es muss nicht so sein, dass Facebook in fünf Jahren noch wichtig ist. Wenn ich überlege, wie schnell ein Ökosystem wie das von Apple gewachsen ist und alle unsere Prognosen über den Haufen geworfen hat, dann gucke ich lieber, was wir in den nächsten vier bis acht Wochen machen oder in einem halben Jahr. „Heute“ ist viel wichtiger als „in fünf Jahren“.

Jeder sagt, dass die Homepage stirbt. Unsere Seite wächst. Sie wächst sogar noch auf dem Desktop, obwohl wir immer mehr Mobilnutzer haben. Können Sie es mir erklären? Ich kann es mir nicht erklären. Es ist aber so – womöglich hat es mit unserer Art von Journalismus zu tun. Es ist hilfreich, gelegentlich eine Realitätsprüfung der eigenen Glaubenssätze vorzunehmen. Noch so eine Lehrbuch-Regel, die nicht gilt: Nach unserem Relaunch haben wir einen zusätzlichen Wachstumsschub erlebt. Das ist eher ungewöhnlich, denn oft fremdeln Nutzer zunächst, wenn sich ein altbekanntes Produkt stark verändert.

8. Welches Medium fehlt heute noch auf dem Markt?

Es ist leider schon auf dem Markt, nämlich Medium, derzeit mein Lieblingsprojekt. Ich bin betroffen, dass ich es nicht gemacht habe. Es ist sozusagen die Apotheose der Blogs, ihre höchste Stufe. Es ist die angemessene Publikationsform in einer Welt, in der es Social Media gibt. Es ist die Publikationsform, in der ich Self-Publishing auf höchstem Niveau mit perfektem Design machen kann. Auch das Ökosystem funktioniert, etwa die Reichweitengenerierung. Und das Wichtigste: Es macht große Freude, da reinzuschreiben.


* Die IVW gibt die Nutzungsdaten u.a. in sog. Kategorien-Visits an. Die oben angegebenen Zahlen spiegeln demnach Visits wider, die sich ausschließlich auf die Kategorie „Homepage des Angebots“ beziehen. Mehr Information zum Kategoriensystem 2.0 bei der IVW.

 

 

Über den Autor

Oliver Nermerich ist Kommunikationswissenschaftler und lebt im Internet. Bei OSK arbeitet er als Manager Online/Social Media und entwickelt kundenübergreifend Strategien, Auftritte und Kampagnen für das Internet und mobile Anwendungen. Auch privat dreht sich bei ihm alles um die digitale Welt: Er gehört zum Autorenteam des Lifestyle-Blogs Whudat.de und betreibt mit Freunden das Rolling-Magazin "Be-Mag". Sein Smartphone gibt er nur aus der Hand, wenn er auf sein Board steigt und an der Algarve die nächste Welle surft. Für das OSK Blog spürt er die neuesten Trends und Entwicklungen im Netz auf und spricht mit Meinungsmachern und Digital Influencern.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.