WeChat Matthew Brennan Titel

Matthew Brennan „WeChat ist mittlerweile eine kleine Parallelwelt“, sagt Tech-Business-Experte Matthew Brennan über den chinesischen Kurznachrichtendienst, den monatlich über eine Milliarde Menschen nutzen – Tendenz steigend. Auch hierzulande sprechen alle über WeChat. Was den Kurznachrichtendienst so erfolgreich – und auch für europäische Firmen wichtig – macht, erläutern wir im Gespräch mit Matthew Brennan, Referent und Autor, der sich auf chinesische Tech-Themen konzentriert hat.


Brennan ist Experte zum Thema Tencent, Chinas größtem Technologieriesen und Mutterkonzern des berühmten Kurznachrichtendienstes WeChat. Sein Unternehmen China Channel organisiert Chinas größte WeChat-Marketing-Konferenzreihe für internationale Unternehmen, außerdem arbeitet er mit internationalen Unternehmen zusammen, um deren WeChat-Plattformstrategie mitzugestalten und umzusetzen. Zudem ist er Co-Moderator des „China Tech Talk“-Podcasts. Im Interview spricht Brennan über den Erfolg von WeChat und wie Unternehmen ohne chinesischen Firmensitz davon profitieren können, über Gesichtserkennung sowie den Unterschied zwischen WeChats In-App-Mini-Programmen und regulären Apps.

Matthew, Sie leben in China und sind WeChat-Experte. Was können westliche Unternehmen von Chinas Tech Business lernen?

Die ganze Welt kann von Chinas Tech Business lernen. Das Tech Business dort ist ein eigenes Ökosystem, eine regelrechte alternative Realität. Ich habe oft das Gefühl, dass Unternehmen, zum Beispiel aus dem Silicon Valley, gar nicht bewusst ist, was gerade in China passiert. China hat viel von Amerika gelernt. Aber die Regeln in der Volksrepublik sind anders – Facebook ist gesperrt, WeChat mittlerweile eine kleine Parallelwelt. Lange hat China amerikanische Technik kopiert. Jetzt kommt die Innovation aus Peking, Shanghai und Co. Unternehmen gehen ihren eigenen Weg – bestes Beispiel dafür ist die App TikTok, die gerade die Welt erobert und aktuell die beliebteste App in China ist.

Die ganze Welt kann von Chinas Tech Business lernen.

Sprechen wir über WeChat. Wie genau wird die ursprünglich als Kurznachrichtendienst gedachte App aktuell genutzt?

Der Großteil der User benutzt WeChat nach wie vor wie einen Messenger, vergleichbar mit WhatsApp. User lesen hier aber auch Artikel und schauen Videos. So ziemlich jedes Unternehmen in China hat einen offiziellen Account, den es als Informations- und Content-Marketing-Channel benutzt. Und dann gibt es natürlich noch die Mini-Programme in der App. Außerdem kann man mit WeChat bezahlen, sicherlich einer der Gründe, warum der Dienst so erfolgreich ist. Nehmen wir mich als Beispiel: Für fast all meine Daily Needs bezahle ich mit WeChat. Es ist wirklich selten, dass hier jemand Bargeld nutzt, sogar Karten sind eher die Ausnahme, außer es geht um größere Summen. Das ist etwas, was wir außerhalb von China nicht sehen. Apple Pay funktioniert vom Gedanken her ähnlich, aber es ist – anders als WeChat – kein System, das auf QR-Codes basiert.

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In Deutschland bezahlen immer noch extrem viele Menschen mit Bargeld, Apple Pay ist ganz neu. Ist man in China offener? Haben wir im Westen größere Angst vor digitalen Innovationen?

Ich glaube, das Thema Gesichtserkennung ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Das ist in China super populär, man sieht es überall. Über Gesichtserkennung checken wir uns in der Arbeit ein, nicht etwa mit einer Stempelkarte oder einem Code. Gesichtserkennung wird kaum hinterfragt, auch nicht die negativen Aspekte. Das ist in Deutschland anders.

Hierzulande beginnen Firmen gerade erst zu verstehen, wie WeChat überhaupt funktioniert. Macht es für Unternehmen ohne Firmensitz in China überhaupt Sinn, sich des Themas anzunehmen?

WeChat ist durchaus ein sinnvoller Kanal, wenn ein Unternehmen chinesische Kunden adressieren möchte. Ein Reiseunternehmen zum Beispiel kann seine chinesischen Kunden in der App erreichen – sie können dort ja sogar bezahlen. Das geht theoretisch auch offline: Wer als Unternehmen keinen Sitz in China hat, aber chinesische Kunden ansprechen möchte, kann einen QR-Code auf sein Produkt oder Offline-Medien wie etwa Plakate drucken. Scannt der Nutzer diesen Code innerhalb von WeChat, wird er zu einer Landingpage in der App weitergeleitet und erlebt das Angebot digital.

Gehen wir also davon aus, dass eine Firma ohne Sitz in China einen WeChat-Account eröffnen möchte. Wie geht man am besten vor? Haben Sie Tipps?

Ich glaube, dass es unrealistisch für nicht chinesische Unternehmen ist, einen erfolgreichen Account ohne Hilfe zu betreiben. Ich würde vorschlagen, einen chinesischen Mitarbeiter zurate zu ziehen, vor allem bei kleineren Unternehmen. Für größere Firmen ist sicher ein Dienstleister sinnvoll. Es geht hier ja nicht nur um die Sprachbarriere, sondern auch um die Nutzungskultur. Im Westen eröffnen wir einfach eine Facebook-Seite. Mit WeChat ist das etwas komplizierter.

Im Westen eröffnen wir einfach eine Facebook-Seite. Mit WeChat ist das etwas komplizierter.

Sprechen wir über Mini-Programme: Was zeichnet ein Mini-Programm aus – und was muss es haben, um erfolgreich zu sein?

Werfen wir dafür einen Blick auf Amerika: Bei Walmart gab es den Dienst „Chat & Go“. Man scannte seine Einkäufe und bezahlte mit dem Handy. Der Service wurde kaum genutzt. Denn: Man musste dafür eine App runterladen – diese Grenze war offenbar zu hoch. Mit Mini-Programmen in WeChat ist das anders, denn der Nutzer muss die App nicht verlassen. WeChat macht es Usern so leicht wie möglich, ihre jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei den Dienst zu verlassen. Ein Mini-Programm ist auch sonst anders als eine App. Den Erfolg einer App misst man daran, wie oft sie geöffnet wird oder wie viel Zeit der Nutzer in ihr verbringt. In einer Mini-App geht es um Conversions. McDonald’s hat zum Beispiel nicht ein Mini-Programm, sondern gleich vier oder fünf – und jedes hat ein unterschiedliches Ziel, zum Beispiel im Restaurant oder etwas nach Hause zu bestellen.

WeChat macht es Usern so leicht wie möglich, ihre jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen.

Matthew, werfen wir zuletzt noch einen kurzen Blick in die Zukunft. Welche Apps sollten wir sonst noch auf dem Schirm haben?

Definitiv Little Red Book, eine E-Commerce-Plattform, außerdem TikTok. Auch Gesichtserkennung wird eine noch größere Rolle spielen – und alles, was Shopping angeht: neue Retail-Konzepte mit Augmented Reality, Big Data und Internet Connectivity.

 

Wer Matthew Brennan übrigens live sehen und sich mit ihm austauschen möchte, hat dazu während der “Marketing to China Conference” in London vom 5. bis zum 6. Juni die Gelegenheit. Dort wird er über WeChats Marketingchancen für Unternehmen sowie Mini-Programme sprechen.

 

Porträtbilder: Matthew Brennan

Über den Autor

Oliver Nermerich ist Kommunikationswissenschaftler und lebt im Internet. Bei OSK arbeitet er als Manager Online/Social Media und entwickelt kundenübergreifend Strategien, Auftritte und Kampagnen für das Internet und mobile Anwendungen. Auch privat dreht sich bei ihm alles um die digitale Welt: Er gehört zum Autorenteam des Lifestyle-Blogs Whudat.de und betreibt mit Freunden das Rolling-Magazin "Be-Mag". Sein Smartphone gibt er nur aus der Hand, wenn er auf sein Board steigt und an der Algarve die nächste Welle surft. Für das OSK Blog spürt er die neuesten Trends und Entwicklungen im Netz auf und spricht mit Meinungsmachern und Digital Influencern.

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