Titelbild 2 Richard Gutjahr

Foto: Mathias Vietmeier

Alte gegen neue Medienwelt – das ist der Kampf, der noch immer in den Köpfen vieler Journalisten ausgetragen wird. Dass dieses „Gegeneinander“ keine Notwendigkeit ist, sondern ebenso gut ein „Miteinander“ sein kann, beweist Richard Gutjahr. Der Journalist und Blogger vereint beide Welten. Auf der einen Seite in den klassischen Medien ausgebildet, arbeitet er unter anderem als freier Mitarbeiter für die ARD, moderiert Nachrichten- und Magazinsendungen beim BR und WDR. Auf der anderen Seite ist Richard Gutjahr im Netz und den sozialen Medien zu Hause. Er gehörte in Deutschland zu den ersten Journalisten, die sich intensiv mit Snapchat auseinandergesetzt haben. Der Medienexperte nutzt die App aktiv als Kommunikationskanal, sein Smartphone hat er immer griffbereit. Vor dem Interview ergibt sich auf unserer Dachterrasse die Gelegenheit eines Schnappschusses vom Kölner Dom. „Wow, tolle Aussicht! Das teile ich kurz mit meiner Community“, erklärt Gutjahr und zückt das Handy.

Doch er weiß genauso gut, wann die neuen Netzwerke nicht der richtige Verbreitungsweg sind. Als Gutjahr Zeuge des Anschlags in Nizza wird, hält er die Geschehnisse mit seiner Kamera fest und stellt die Bilder anschließend der ARD und anderen Medien kostenlos zur Verfügung. Obwohl er andere Journalisten in Livestreaming und Mobile Reporting ausbildet, verzichtet Richard Gutjahr an dem Abend bewusst auf einen Livestream und überlässt die Auswahl der Bilder den Heimatredaktionen. „Ich sah mich in der Situation nicht in der Lage, eine Entscheidung von solcher Tragweite allein treffen zu können.“

Im OSK-Interview spricht Richard Gutjahr über die Bedeutung der sozialen Netzwerke für den Journalismus und erklärt, warum Facebook immer das Steuer in der Hand hält.

Da muss man unterscheiden. Ich bin ein großer Fan von sozialen Netzwerken und ich bespiele auch alle relevanten Kanäle. Das mache ich bewusst als Einzelkämpfer, denn ich bin der Meinung, dass Menschen lieber mit Menschen kommunizieren als mit Marken. Große Medienhäuser befinden sich in einer anderen Ausgangssituation. Denen schmeckt es natürlich nicht, wenn irgendwelche kleinen Gutjahrs daherkommen und ihr eigenes Ding machen. Und das tue ich natürlich. Ich habe mehr Twitter-Follower als der offizielle Sprachkanal des Bayerischen Rundfunks.

Klar, das Netz demokratisiert tatsächlich. Es nimmt von den Großen und gibt jedem die Möglichkeit, Nachrichten ohne Mittelsmänner zum Publikum zu spielen. Eine Riesenchance für Einzelne und es nimmt den klassischen Platzhirschen einen Teil ihrer Macht.

Ist Facebook in diesem Zusammenhang ein Medium?

Das ist ein sehr interessanter Streit. Wenn ich an Facebooks Stelle wäre, würde ich auch behaupten, kein Medium zu sein. Wann immer es darum geht, reguliert zu werden oder irgendwelche Strafen zahlen zu müssen, ist Facebook nur ein Technikprovider. Aber im Grunde genommen hat das Netzwerk den klassischen Sendern und Verlagen die Butter vom Brot genommen.

Am Anfang hieß es nur: „Was machst du gerade?“ Dann hieß es: „Stell doch einen Link zu deinem Blog rein oder zu deiner Homepage.“ Danach war es dann: „Mach doch noch ein Bild mit dazu.“

Am Ende kamen die Instant Articles dazu, nach dem Motto: „Bei uns sind deine kompletten Inhalte besser aufgehoben. Schenk uns all deine Inhalte und wir übernehmen deine Marketingabteilung!“ Schritt für Schritt wurden alle Aufgaben, die einen Sender zu einem Sender oder einen Verlag zu einem Verlag machen, entrissen.

„The elephant in the room“ ist für mich Amazon.

Ist Facebook also eine Gefahr, das zentrale Medium der Zukunft?

Wir reden immer über Facebook oder Twitter. „The elephant in the room“ ist für mich Amazon. Amazon betreibt hinter den Kulissen die größte und strategischste Verschiebung, die man sich im Mediengeschäft vorstellen kann. Nicht nur, dass aus einem Kaufhaus ein Medienunternehmen entsteht. Sie haben mehr noch als Facebook das perfekte Portfolio an Werbung. In meinem Fall kennen sie 15 Jahre meiner Kaufgeschichte. Diese Daten muss Amazon nur noch mit Medien zusammenlegen.

Richard Gutjahr 1

Sollten Medienhäuser ihre Inhalte auf sozialen Netzwerken kostenlos anbieten?

Die Medienhäuser haben das Internet viel zu lange ignoriert. Jetzt laufen sie dem Zug hinterher. Man hat gewartet und zugesehen, wie sich andere im Netz breitgemacht haben. Dadurch sind Medienhäuser in eine Abhängigkeit geraten. Ein Faust’scher Pakt: Reichweite gegen Kontrolle. Man gibt seine Inhalte in die Hände eines anderen und bekommt dafür etwas Aufmerksamkeit zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob das so klug war.

Die Medienhäuser haben das Internet viel zu lange ignoriert.

Heute bleibt einem fast nichts anderes mehr übrig, denn Facebook, Google, Apple und Amazon diktieren den Markt. Auf Medienkongressen heißt es immer, dass eine Partnerschaft zwischen Facebook und Medienhaus besteht, aber in jeder Partnerschaft hat einer das Steuer in der Hand. Das sind in der Regel nicht die Verlage oder Sender.

Können Influencer Journalisten ersetzen?

Das machen sie schon längst. In der Zukunft gibt es nur noch eine Währung und die heißt Aufmerksamkeit. In einem unendlichen Netzrausch konkurriert der Tatort mit jedem Katzenvideo. Jeder YouTuber, jeder 14-Jährige mit einem Handy und jeder Snapchatter – und das sind viele da draußen – nimmt dir Aufmerksamkeit. Alle, die ein Teil des Netzes sind, kämpfen um Aufmerksamkeit, um sie später in Macht oder Geld einzutauschen.

Wenn erst mal die nächste Mobilfunkgeneration auf den Markt kommt, brechen alle Dämme. Alles, was digital ist, ob hochauflösendes Video oder ein Tweet, sind Objekte, mit denen du in Konkurrenz stehst. Bis dahin hast du besser deine Hausaufgaben gemacht. Wenn du dann erst anfängst, dir Gedanken zu machen, wie du dich neu ausrichten musst, ist es bereits zu spät.

Bedroht dieser Umstand den Journalismus?

Viele Menschen irren, glaube ich, wenn sie bewerten, was Journalismus ist und was nicht. Wer definiert denn, was Qualität ist? Für die einen ist „Titel, Thesen, Temperamente“ am Sonntagabend mit dem Cognac auf der Couch Qualität und für die anderen sind es Schminktipps. Bitte nicht falsch verstehen: Ich möchte das nicht ins Lächerliche ziehen.

Denn in der Relevanz eines 14-Jährigen, der mit Pickeln kämpft, kann eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit dem Thema Akne viel bedeutender sein als die große Weltpolitik des nächsten Nahostgipfels. Wir müssen weg von der statischen Begriffsdefinition des Qualitätsjournalismus.

Richard Gutjahr_031Foto: Mathias Vietmeier

Braucht ein einzelner Journalist die großen Verlage dann überhaupt noch?

Ein großer Tanker ist sehr schwerfällig. Er mag gut sein, er mag solide sein und auch vieles richtig machen. Doch wenn es um radikale Umbrüche geht und sich die Welt um uns im Stundentakt verändert, sind die Entscheidungswege auf so einem Tanker einfach zu lang. Du siehst den Eisberg immer näher kommen, doch bis du den Kurs geändert hast, ist es bereits zu spät.

Deshalb sind Beiboote wie ich eins bin gar nicht so dumm. Die großen Medientanker können diese Beiboote vorschicken, um Neues zu testen. Wenn sich nur das Beiboot verfährt, ist es nicht so schlimm. Einzelne Personenmarken sind im Zweifel wahrscheinlich sogar die besseren Navigatoren als die großen Schlachtschiffe, die oftmals viel Zeit brauchen und dazu sehr beratungsresistent sein können. Warum diese Beiboote nicht ernst nehmen und zu Partnern machen, statt sie zu bekämpfen?

Jeder Mensch mit einem Smartphone kann eine Lawine auslösen.

Steuerung und Kontrolle sind derzeit ein zentrales Thema in den Medienanstalten. Denn sie verlieren die Kontrolle. Jeder Mensch mit einem Smartphone kann eine Lawine auslösen. Dafür reicht theoretisch schon ein Tweet. Das ändert alles. Es ändert die komplette Dynamik. Das Internet ist dezentral und vergleichbar mit einer Hydra. Man kann versuchen, Verbindungswege zu kappen, aber im gleichen Moment wachsen fünf neue nach. Wir müssen unsere Kommunikation von Grund auf ändern. Der Schlüssel dazu lautet für mich digitale Empathie. Wenn du ein Gefühl dafür entwickelst, wie Netzwerke funktionieren, wie Erregungskreisläufe ablaufen, welche Themen aktuell resonanzfähig sind und welche nicht, kannst du bessere Entscheidungen treffen. So etwas kann man lernen. Aber dazu müssen wir bereit sein, die digitale Welt wahrhaftig zu leben und nicht nur darüber zu reden.

Über den Autor

Carsten Christian ist studierter Journalist und Kommunikationswissenschaftler, seinen Master-Abschluss hat er an der Uni Hamburg gemacht. Bevor er zur Agentur kam, war der Digital Native mehr als zwei Jahre für die Online- und Print-Ausgabe der Ruhr Nachrichten im Einsatz. Bei OSK arbeitet er als Team Lead Digital Content, auf dem Agentur-Blog schreibt Carsten über den Medienwandel und Trends im Bereich Digital-Kommunikation. Privat verfolgt er Neuigkeiten in der Videospiel- und Gaming-Szene und greift auch selbst zu Maus und Gamepad.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.