Nabil Wakim Titel

tl;dr (Lesezeit 8 Minuten)

  • Nabil Wakim ist Leiter Redaktionelle Innovation der französischen Tageszeitung Le Monde.
  • Laut Wakim müssen Medien ihre Inhalte nicht mehr zwingend auf eigenen Seiten veröffentlichen. “Ein Medienunternehmen kann sehr erfolgreich sein, ohne Menschen direkt auf die eigene Website zu ziehen.”
  • Gut zu sein reiche allein nicht mehr aus, um als Medium erfolgreich zu sein. Man müsse sich vor allem unterscheiden und seine eigene Identität als Medienanbieter finden.
  • Die größte Umwälzung, die auf den Journalismus zukommt, betrifft laut Wakim die Revolution der Daten. “Wir haben Daten zu allem und über alles. Diese Informationen müssen wir zwar verstehen und nutzen, sie dürfen aber nicht verändern, wer wir sind.”

Nabil Wakim 400x400Identität. Das ist für Nabil Wakim der Kern des Journalismus. Denn um guten Journalismus anbieten zu können, müsse sich jedes Medium und jeder Journalist seiner eigenen Identität bewusst sein und diese in seiner Arbeitsweise verinnerlichen. Nur wer seine Identität gefunden habe, könne sich von der Konkurrenz absetzen.

Wakim ist Leiter Redaktionelle Innovation der französischen Traditionszeitung Le Monde. Er setzt neue Impulse, um das Medienhaus auf die Zukunft der Branche vorzubereiten. Die Aufgaben des Visionärs teilen sich dabei in drei Bereiche auf. Zum einen beschäftigt er sich damit, wie Le Monde den Content über verschiedene Kanäle verbreitet. Zu diesem Zweck wurden beispielsweise eigene Teams für Snapchat und Facebook Live gegründet.

Darüber hinaus ist Nabil Wakim für die Entwicklung neuer Inhalte verantwortlich. So war er vor zwei Jahren maßgeblich am Launch der Publikation Pixels beteiligt. Pixels thematisiert neue Technologien sowie die „Nerd-Kultur“ und spricht damit eine für Le Monde neue Zielgruppe an. Sein drittes Arbeitsfeld umfasst die interne Umstrukturierung des Newsrooms. „Innovation soll bei Le Monde vor allem von innen entstehen“, erklärt der Journalist. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Organisation, die Arbeitsabläufe sowie die Entscheidungsfindung den neuen Rahmenbedingungen der Digitalisierung angepasst werden.

Im Interview erklärt Nabil Wakim, warum sich der Journalismus nicht von Daten treiben lassen darf, wieso er sich ein Werkzeug wünscht, welches das Vertrauen der Leser in den Journalismus wiederherstellt, und wie er die Identität von Le Monde beschreiben würde.

Nabil Wakim
Leiter Redaktionelle Innovation Le Monde

Twitter: @NabilWakim
Facebook: Nabil Wakim
LinkedIn: Nabil Wakim

1. Wie zeichnet sich Qualitätsjournalismus in Zukunft aus und was schadet ihm?

Qualitätsjournalismus in der Zukunft darf sich in seinen Standards nicht vom Qualitätsjournalismus der Gegenwart oder dem der Vergangenheit unterscheiden. Der digitale Wandel beeinflusst
uns Journalisten natürlich, aber die Grundlagen unserer Arbeit bleiben gleich. Und dennoch verändert sich unsere Tätigkeit in drei wesentlichen Punkten. Zuerst wäre da die Zeit und unser Verhältnis zu ihr – wie passen wir uns immer schnellerem Journalismus an? Es ist eine große Chance, seine Leser in Echtzeit informieren zu können. Gleichzeitig stellt es uns vor eine neue Herausforderung. Denn Schnelligkeit ist keine leichte Aufgabe, wenn man seine Inhalte vor Veröffentlichung gründlich überprüfen will.

Der zweite Punkt betrifft das Format. Wir befinden uns gerade erst am Anfang der Überlegung, wie wir Geschichten am besten erzählen können. Die Art und Weise, wie wir Bilder, Videos oder Leserinteraktion nutzen, ist essenziell für die jeweilige Story. Die dritte Neuerung dreht sich um die Leser selbst. Früher schrieben sie ab und zu Leserbriefe, wenn sie sich über etwas in der Zeitung beschweren wollten. Das passiert nun in Echtzeit auf unserer Website, in unseren Apps und speziell natürlich auf unseren Social-Kanälen. Dass sich Leser aktiv beteiligen können, stellt den Journalismus komplett auf den Kopf. Wir erfahren viel über sie – was sie mögen, was nicht und was sie wann unternehmen. Dennoch dürfen wir uns von diesen Erkenntnissen nicht komplett leiten lassen. Wir müssen unser intellektuelles Projekt, unsere Sicht auf die Welt als Journalisten verteidigen. Die Vorlieben und Meinungen der Leser mit der journalistischen Sichtweise ins Gleichgewicht zu bringen, ist nicht leicht.

Neben diesen drei Punkten sind Fake News ein echtes Problem. Gemeinsam mit den Algorithmen der Netzwerke beeinflussen sie die Meinungen der Leser. Gemeinsam müssen die Plattformen und Medienanbieter einen Weg finden, den Lesern verständlich zu machen, wie soziale Netzwerke als Nachrichtenumgebung funktionieren.

2. Was sind die großen Trends im Journalismus und was wird sich davon künftig durchsetzen?

Medien müssen Inhalte nicht mehr zwingend auf eigenen Seiten veröffentlichen. Ein Medienunternehmen kann sehr erfolgreich sein, ohne Menschen direkt auf die eigene Website zu ziehen, wie das Beispiel von AJ+ zeigt. Die Rechtfertigung traditioneller Medien basiert darauf, dass Menschen zu ihnen kommen. Nun müssen sie hinausgehen und die Leute da abholen, wo sie sind: auf Facebook, Snapchat oder welche neue Plattform noch auftauchen mag.

Medien müssen Inhalte nicht mehr zwingend auf eigenen Seiten veröffentlichen.

Daher experimentieren wir seit einiger Zeit mit Snapchat. Vor ein paar Wochen haben wir damit begonnen, Inhalte auf unserem eigenen Discover-Kanal zu zeigen. Ein Team bestehend aus sieben Journalisten produziert sieben Ausgaben pro Woche, also eine pro Tag. Wir erreichen durch den Messenger jüngere Leser zwischen 13 und 20 Jahren, die unsere Inhalte sonst nicht sehen würden, da sie unsere Website nicht besuchen.

Insgesamt müssen wir natürlich an die Zukunft denken, ums Überleben kämpfen wir aber gerade in diesem Moment. Daher können wir keine Ressourcen in Dinge stecken, die für unsere Leser derzeit nicht relevant sind. Natürlich fände ich es schön, wenn es bei Le Monde ein Team für Virtual Reality gäbe. Wenn unter unseren Lesern jedoch kein Interesse daran besteht, ist es zu früh für eine Umsetzung. Wir wollen uns aller Trends bewusst sein, aber wir setzen sie erst um, wenn sie eine Relevanz für uns haben.

3. Wie und wo recherchieren Sie nach guten und spannenden Inhalten?

Auf meinen Job bezogen, würde ich diese Fragen eher in Hinsicht auf die Suche nach redaktioneller Innovation beantworten. Dafür nutze ich interne und externe Quellen. Es gibt tolle Ideen, die von außerhalb kommen. Sie nutzen jedoch nichts, wenn sich in der Redaktion niemand damit auseinandersetzen will. Wir versuchen daher, unsere Mitarbeiter dazu zu bewegen, über frischen Input genauer nachzudenken. Dafür organisieren wir Redaktionskonferenzen und Diskussionsrunden, informieren darüber, was in anderen Medienhäusern passiert. Ich beschäftige mich intensiv damit, welche Projekte unsere Konkurrenz umsetzt. Und wir halten Mitarbeiter an, andere Redaktionen zu besuchen. Dort erfahren sie, wie Mitbewerber sich dem digitalen Wandel stellen. Innovation soll vor allem aus unserem Inneren entstehen, durch unsere Mitarbeiter, nicht von außen zugeliefert.

4. Was muss man als Journalist künftig tun und können, um gelesen und wahrgenommen zu werden?

Zum einen müssen Journalisten gute Inhalte anbieten. Gut allein reicht jedoch nicht, die Inhalte müssen vor allem anders sein. Wir haben jahrelang daran gearbeitet, um der Website von Le Monde eine erklärende Ausrichtung zu verleihen. Bei Ereignissen wie etwa den Terrorattacken in Paris finden die Menschen bei uns die Informationen, die ihnen helfen, das Geschehen einzuordnen. Das ist unsere Identität. Wir erklären die Nachrichten, während sie passieren. Für eine andere Website kann diese Identität ganz anders aussehen.

Um zu messen, ob wir mit diesem Ansatz erfolgreich sind, setzen wir bei Le Monde auf fünf Fragen:

1. Gewinnen wir neue Leser?

2. Holen wir mit unseren Themen die bestehenden Leser ab?

3. Wachsen unsere Umsätze?

4. Nehmen unsere Abonnentenzahlen zu?

5. Wie lange sind uns Abonnenten treu?

Des Weiteren müssen Journalisten sich mit den Prozessen auseinandersetzen, die anlaufen, nachdem sie einen Artikel veröffentlicht haben. Früher schrieb der Redakteur seinen Artikel,
setzte ihn in die Zeitung, nahm seinen Hut und ging heim. Das hat sich geändert. In dem Moment, in dem eine Geschichte veröffentlicht wird, beginnt eine neue Geschichte. Leser werden darauf reagieren, es wird Kommentare in sozialen Netzwerken geben, der Artikel wird geteilt, nach Feedback und Rückfragen kann man ihn anpassen und über andere Kanäle versuchen, neue Leser zu erreichen.

// Über #ZukunftDesJournalismus
Mobiles Internet, immer leistungsfähigere Smartphones, neue Nachrichtendienste: Die Medienlandschaft verändert sich rasant und mit ihr der Journalismus. Viele Fragen bewegen die Branche: Ist die Tageszeitung ein Auslaufmodell, weil die jüngeren Zielgruppen aktuelle Nachrichten nur noch auf mobilen Endgeräten konsumieren? Erledigen bald Schreibroboter typische Routineaufgaben und machen damit einen Teil der Redakteure überflüssig? Mit welchen neuen journalistischen Darstellungsformen können Menschen erreicht werden, die immer weniger lesen und nur noch Bilder anschauen? Gemeinsam mit Journalisten und Medienmachern aus ganz unterschiedlichen Richtungen wagt OSK einen Blick in die Zukunft des Journalismus. Das Prinzip ist immer das gleiche: acht Fragen, acht Antworten. Stück für Stück entsteht so ein Bild, das belastbare Aussagen zu entscheidenden Trends von morgen und übermorgen ermöglicht.

5. Die technologischen Veränderungen sind rasant – wie müssen sich vor diesem Hintergrund der Journalismus verändern und dessen Anbieter anpassen?

Die größte Umwälzung, die auf uns zukommt, betrifft die Revolution der Daten. Wir haben Daten zu allem und über alles. Diese Informationen müssen wir zwar verstehen und nutzen, sie dürfen aber nicht verändern, wer wir sind. Daten brauchen wir, um unsere Entscheidungen zu untermauern, aber nicht, um sie überhaupt zu treffen. Es ist ein schmaler Grat: Während wir über unsere Leser wissen wollen, was sie mögen, von wo sie auf unsere Website kommen und wohin sie nach ihrem Besuch gehen, müssen wir mit diesen Informationen klug sowie verantwortungsvoll umgehen und festlegen, wie sich diese Daten auf unsere Entscheidungen auswirken.

Es wird keine „Mehrheit“ der Medien geben.

6. Wie verdient der Großteil der Medien künftig Geld?

Es wird keine „Mehrheit“ der Medien geben. Verschiedene Medien werden unterschiedliche Geschäftsmodelle entwickeln. Einige bekannte Marken wie Le Monde, die New York Times, der
„Guardian oder Der Spiegel werden auf Abonnenten setzen können, nicht zu einhundert Prozent, aber zu einem großen Anteil. Der durch Werbung finanzierte Journalismus ist die andere Option, aber da stehen wir erst am Anfang. Der Anzeigenmarkt ist alt und konservativ, vor allem in Frankreich. Hier produzieren Unternehmen noch immer Online-Anzeigen wie für Print. Sie kaufen einen Anzeigenplatz auf einer Website, wo ihre Werbung ausgespielt wird. Manchmal bewegt sich die Anzeige, aber das ist schon das höchste der Gefühle. Eine sehr altmodische Denkweise. Wahrscheinlich ändert sich der Anzeigenmarkt in Richtung datenbasierter und personalisierter Werbung. Oder aber es geht mehr in Richtung Native und Brand Content. Fest steht: Es wird nicht das eine Geschäftsmodell für alle geben. Manche Medien werden von Abonnements leben, andere von Werbung, wieder andere werden sich durch Förderungen finanzieren.

7. Wie sehen Ihrer Ansicht nach journalistische Inhalte und die Angebotslandschaft in fünf Jahren aus?

Eine wirklich schwierige Frage. Fünf Jahre kann ich nicht in die Zukunft schauen, aber ich versuche es mit zwölf Monaten. Im nächsten Jahr werden Facebook und Google die Medienlandschaft
noch einmal kräftig durchrütteln, zum Positiven wie zum Negativen. Neue Wege des Geschichtenerzählens werden ebenfalls verstärkt in den Fokus rücken. Im Vergleich zu Medien in den USA oder Großbritannien stehen französische Redaktionen diesbezüglich noch am Anfang, das wird sich in den kommenden zwei Jahren aber ändern. Denn wir arbeiten hart daran, Geschichten auf eine visuell ansprechendere Weise zu erzählen.

8. Welches Medium fehlt heute noch auf dem Markt?

Ich würde mir ein Werkzeug wünschen, das uns hilft, das Vertrauen unserer Leser wiederzugewinnen. Denn das Vertrauen haben wir verloren. Technologie ist nicht unser Problem, es ist der Journalismus als solcher. Viele Leser, auch unsere, abonnieren keine Zeitungen mehr. Sie wenden sich Menschen zu, die gefälschte Meldungen verbreiten. Sie vertrauen diesen Meldungen genauso, wenn nicht sogar mehr als unseren Nachrichten. Jedes Werkzeug, das Vertrauen in den „echten“ Journalismus wiederherstellt, wäre daher sehr hilfreich. Um sich der Welle an Fake News und schlechtem Clickbait-Journalismus entgegenzustellen, müssen Medienanbieter und soziale Netzwerke eng zusammenarbeiten.

Über den Autor

Carsten Christian ist studierter Journalist und Kommunikationswissenschaftler, seinen Master-Abschluss hat er an der Uni Hamburg gemacht. Bevor er zur Agentur kam, war der Digital Native mehr als zwei Jahre für die Online- und Print-Ausgabe der Ruhr Nachrichten im Einsatz. Bei OSK arbeitet er als Team Lead Digital Content, auf dem Agentur-Blog schreibt Carsten über den Medienwandel und Trends im Bereich Digital-Kommunikation. Privat verfolgt er Neuigkeiten in der Videospiel- und Gaming-Szene und greift auch selbst zu Maus und Gamepad.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.