Emily Bell Titel

Lange war Facebook für Publisher ein Garant für Klicks und Leser. Doch mit den Newsfeed-Änderungen Anfang des Jahres hat das Netzwerk quasi über Nacht Nachrichtenmedien die Reichweite beschnitten. Die Änderungen trafen die Branche zwar unvorbereitet, doch es gab schon lange Kritiker, die Publisher davor warnten, sich zu sehr auf Facebook zu verlassen. Eine davon war Emily Bell.

Die Britin ist eine Pionierin des Online-Journalismus. Anfang der Nullerjahre kam sie zum Guardian. Als Director of Digital Content war sie dort maßgeblich daran beteiligt, die Zeitung zu einem der einflussreichsten Online-Medien weltweit zu machen. Inzwischen leitet sie das Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University und forscht dort an alternativen Konzepten für die Medienbranche. Für sie ist guter, unabhängiger Journalismus heute wichtiger denn je. Er sei die Abwehr gegen Populismus, Fake News und die Halbwahrheiten, die unsere Welt zurzeit prägten. Die Algorithmen der sozialen Netzwerke hätten viel zu diesen Missständen beigetragen. Im Interview mit OSK verrät Emily Bell, was sie von Facebook fordert und warum sie trotz all der Schwierigkeiten an guten Journalismus glaubt.

Emily Bell

Was macht für Sie guten Journalismus aus?

Guten Journalismus erkennt man, wenn man ihn sieht. Er berichtet über Dinge, die wichtig und wahr sind. Er setzt die Welt in Kontext und hilft, sie besser zu verstehen sowie bessere Entscheidungen zu treffen, wenn es um demokratische Prozesse geht.

Wer die Mächtigen mit der Wahrheit konfrontiert, macht sich damit bei Werbekunden nicht unbedingt beliebt. Click To Tweet

Die traditionellen Medienhäuser suchen seit Jahren nach Lösungen, um in der digitalen Welt zu bestehen. Warum ist es zurzeit so schwierig, guten Journalismus zu produzieren?

Ich könnte sagen, es ist die fehlende Finanzierung. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Geld wirklich die größte Hürde ist. Ja, es ist schwer, mit gutem Journalismus finanziell nachhaltig zu sein. Denn wer die Mächtigen mit der Wahrheit konfrontiert, macht sich damit bei Werbekunden nicht unbedingt beliebt.

Aber die Finanzierung ist nur eins von vielen Problemen?

Ein anderes Problem ist Relevanz. Wir leben in einer Welt, in der Menschen so viele andere Dinge tun könnten, sich mit so vielen anderen Dingen die Zeit vertreiben könnten als mit unseren Nachrichten. Wie also können wir guten Journalismus machen, der relevant für die Menschen ist? Und wie bekommen wir Aufmerksamkeit dafür, ohne reißerisch die eigentliche Aussage zu verzerren? Diese Fragen müssen wir klären.

Facebook hat Anfang des Jahres die Algorithmen des Newsfeeds angepasst und damit viele Medien verärgert. Wie bewerten Sie die Änderungen?

Das ist schwer zu sagen. Im Grunde geht es nicht darum, was geändert wurde. Es geht vielmehr um die Art, wie Facebook dabei vorgegangen ist. Eine Diktatur ist definiert als ein System, in dem du nicht weißt, was morgen passiert. Ein System, in dem du im Grunde nicht selbst über dein Leben bestimmen kannst. Das ist der Zustand für Medien auf Facebook. Besonders für Social-First-Medien wie NowThis oder BuzzFeed ist das ein großes Problem. Unglaublich viele Menschen in der Medienbranche sind deshalb extrem verärgert. Hauptsächlich, weil sie das Gefühl haben, dem Netzwerk ausgeliefert zu sein.

Eine Diktatur ist definiert als ein System, in dem du nicht weißt, was morgen passiert. Das ist der Zustand für Medien auf Facebook. Click To Tweet

Sie haben schon vor vier Jahren über die Gefahren von Facebook für Publisher geschrieben. Ärgert es Sie, dass Sie damals dafür belächelt wurden?

Nein, und ich bin heute viel optimistischer, als ich es lange war. Vor vier Jahren war ich mit meiner Meinung zwar nicht allein, doch die Warnung, sich nicht abhängig von Facebook zu machen, hat damals nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Nun sind meine Vorhersagen wahr geworden. Heute kann niemand mehr das Problem Facebook ignorieren und Publisher können Maßnahmen ergreifen, um es zu lösen.

Was raten Sie Medien: den Facebook-Exit – oder gibt es andere Wege?

Das müssen die Medien selbst entscheiden. In den letzten sechs Monaten ist einiges passiert. Viele Medien haben damit angefangen, alternative Strategien für mehr Plattformunabhängigkeit zu entwickeln. Wir sehen immer mehr Podcasts, Newsletter oder andere eigene Kanäle, bei denen die Sichtbarkeit nicht von Algorithmen abhängt. Doch die Entwicklung ist nicht unbedenklich. Denn wenn die Gesellschaft weiterhin Nachrichten hauptsächlich über Facebook oder Twitter konsumiert, Qualitätsjournalismus dort aber nicht mehr vorkommt, wird das zu einem großen Problem.

Schützt uns der neue Facebook-Newsfeed auf der anderen Seite nicht gegen Fake News?

Die Änderungen sind ein Mittel, um einige der schwarzen Schafe loszuwerden, die das Netzwerk mit schlechtem Content geflutet haben. Es ist ein Anfang, aber Facebook muss deutlich mehr tun. Das Problem der Fake News ist kein technologisches. Es ist ein gesellschaftliches, das durch Technologie verstärkt wird. Um dagegen anzukommen, braucht Facebook einen internen Kulturwandel. Facebook, Twitter oder Google sind in ihrer DNA Tech-Unternehmen. Doch sie haben inzwischen eine gesellschaftliche Verantwortung, der sie nachkommen müssen.

Facebook, Twitter oder Google sind in ihrer DNA Tech-Unternehmen. Doch sie haben inzwischen eine gesellschaftliche Verantwortung. Click To Tweet

Welche Medien stechen gerade besonders positiv heraus?

Es sind die Medien, die sich auf wahren Journalismus konzentrieren. Die, die vor schwierigen, teuren oder zähen Geschichten nicht zurückschrecken. Das sind Non-Profit-Medien wie ProPublica, The Bureau Local oder Correctiv in Deutschland. Oder BuzzFeed, das in Sachen News Außergewöhnliches leistet. Die New York Times oder die Washington Post, die vor ein paar Jahren noch von allen abgeschrieben wurden, sind inzwischen für ihre Art der Berichterstattung weltweit angesehen. Ich glaube, diese Form des Journalismus war noch nie besser als heute. Sie ist unsere Abwehr gegen Populismus, Fake News und die Halbwahrheiten, die unsere Welt zurzeit prägen.

Sind neue Technologien wie beispielsweise Virtual Reality oder Augmented Reality die Zukunft des Journalismus?

Ich stehe diesen Technologien eher skeptisch gegenüber. Alexis Lloyd, Chefdesigner bei Axios, hat es schön formuliert: Wenn du Leser nicht mal dazu bringen kannst, auf einen Link zu klicken, wie willst du sie dazu bekommen, ein Headset aufzusetzen? Gute Tools gibt es heute schon genug. Wir müssen sie nur richtig einsetzen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir werden zunehmend virtuelle Netzwerke nach dem Vorbild des ICIJ sehen. Das ist das Internationale Netzwerk investigativer Journalisten, welches unter anderem für die Enthüllungen der Panama Papers verantwortlich war. Über diese virtuellen Netzwerke können Journalisten länderübergreifend zusammenarbeiten. Es ist quasi ein Newsroom in der Cloud.

Wie konsumieren Sie selbst Nachrichten?

Ich bin nicht der gewöhnliche News-Konsument. Ich lese fast alles auf meinem Smartphone. Dann und wann schaue ich fern. Zum Beispiel CNN, denn ich weiß, dass alle darüber sprechen, was auf CNN berichtet wird. Ich habe von allen großen Zeitungen die Apps installiert. Außerdem schaue ich regelmäßig auf Twitter nach Neuigkeiten. Facebook nutze ich immer seltener. Und manchmal kaufe ich sogar eine Zeitung.

Über den Autor

Oliver Nermerich ist Kommunikationswissenschaftler und lebt im Internet. Bei OSK arbeitet er als Manager Online/Social Media und entwickelt kundenübergreifend Strategien, Auftritte und Kampagnen für das Internet und mobile Anwendungen. Auch privat dreht sich bei ihm alles um die digitale Welt: Er gehört zum Autorenteam des Lifestyle-Blogs Whudat.de und betreibt mit Freunden das Rolling-Magazin "Be-Mag". Sein Smartphone gibt er nur aus der Hand, wenn er auf sein Board steigt und an der Algarve die nächste Welle surft. Für das OSK Blog spürt er die neuesten Trends und Entwicklungen im Netz auf und spricht mit Meinungsmachern und Digital Influencern.

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