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Es gibt sie immer häufiger im Internet: Videos, die etwas Spezielles, Schockierendes, Spektakuläres an sich haben und deshalb „viral gehen“. Das bedeutet, sie werden massenhaft – zum Teil millionenfach – angeschaut und geteilt und verbreiten sich damit wie ein Virus. Unternehmen versuchen verstärkt, dieses Internetphänomen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Marketing-Strategen diskutieren lebhaft darüber, welche Faktoren denn nun darüber entscheiden, ob ein Video „viral geht“ oder eben nicht. Denn auch wenn die genaue Zahl umstritten ist, spricht man mittlerweile bei einem Video erst dann von einem Viral, wenn es innerhalb der ersten Tage eine Million Klicks erreicht. Doch nicht nur PR-Profis, Marketing- und Werbefachleute zerbrechen sich darüber den Kopf, sondern auch Medien-Psychologen. Was genau lösen diese Videos in uns aus? Virals spielen mit unseren menschlichen Emotionen und erzeugen bei uns eine bestimme Reaktion – und was uns gefällt, leiten wir an unsere Freunde weiter. Doch warum teilen wir eigentlich Videos mit unseren Freunden? Unser Interviewpartner Sebastian Buggert, studierter Psychologe und Leiter im Bereich Medienforschung im Marktforschungsinstitut Rheingold in Köln, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Phänomen und erklärt uns, mit welchen psychologischen Tricks die Macher solcher Videos arbeiten.

Daniel Weissleder: Herr Buggert, warum verbreiten sich speziell Videos im Netz besser und schneller als andere Formate?

SebastianBuggertSebastian Buggert: Im Hinblick auf die reine Viralität profitieren Videos grundsätzlich vom allgemeinen Trend zu Bewegtbildinhalten. Videos sind einfach und vor allem schnell zu rezipieren. Sie sind damit leicht zugänglich, was allein bereits die Nutzungswahrscheinlichkeit erhöht. Außerdem sagen Bilder mehr als 1000 Worte. Sie setzen potenziell in kurzer Zeit eine weit größere Emotionalität frei als Textinhalte. Das führt dazu, dass die User immer häufiger kurze Clips suchen und auch teilen, weil es eben den Nutzungsgewohnheiten der Community entspricht. Der Trend zum Video potenziert sich quasi selbst.

Und was muss ein Video inhaltlich Ihrer Meinung nach anbieten, damit es vielfach geteilt und somit zum Viral wird?

Es müssen im Grunde zwei Kriterien gegeben sein: Der Clip muss die Zuschauer erreichen und berühren. Darüber hinaus müssen die User den Eindruck gewinnen, dass sie selbst mit diesem Video einen gelungenen Auftritt in ihrer Community erzielen, dass das Video sie als Absender in ihrem Sinne profiliert – zum Beispiel als besonders findig, als humorvoll, als anspruchsvoll, kritisch etc.

Wann fühlen wir uns denn durch ein Video „erreicht und berührt“?

Es sind letztlich ähnliche Kriterien wie in der Werbung oder auch in der Kunst. Zunächst muss das Video überhaupt die Aufmerksamkeit der Internetgemeinde erreichen. Das ist schwer genug und führt oft zu lauten, schrägen oder extremen Formen. Erfolgreiche Virals müssen die User aber darüber hinaus inhaltlich ‘abholen’, das heißt in die jeweilige Nutzungssituation passen. Videos werden meist in Pausensituationen angeschaut, in denen sich die Nutzer kurz ihren Tagträumen hingeben. Erfolgreiche Videos müssen diese Tagträume stimmig füttern. Insofern ist es wichtig, für die Menschen relevante Themen wenn möglich in kürzester Zeit zu dramatisieren. Erfolgreiche Virals sind sozusagen packende Mini-Dramen und manchmal nur ein paar Sekunden lang.

Sie haben schon angesprochen, dass die Zuschauer vor allem Inhalte verbreiten, mit denen sie sich in ihrer Community profilieren können. Welche Bedeutung nehmen die sozialen Netzwerke bei der Verbreitung eines Videos bzw. Virals ein?

In den sozialen Netzwerken sind wir immer Nutzer und Sender zugleich. Wir lassen uns einerseits informieren und unterhalten, wir suchen andererseits aber immer auch nach Material, das wir senden können, um unser Profil – in gewisser Weise die eigene Sender-Marke – zu pflegen. Wer dabei regelmäßig Qualität liefert, dessen Postings werden auch häufiger wahrgenommen und ggf. geliked oder geteilt. Dementsprechend werden professionelle Inhalte bei populären bzw. prominenten Sendern mit einem hohen Multiplikationsfaktor geseeded.

Können Sie ein Beispiel für ein erfolgreiches Viral geben?

Vor einiger Zeit geisterte ein Video durchs Netz, in dem ein kleiner Junge zu sehen war, der noch in Pampers virtuos Skateboard fuhr. Das sah erst einmal sehr niedlich aus, und es war erstaunlich, wie gut er mit seinen zwei Jahren schon war. Aber auf einer tieferen Ebene ging es auch darum, was man als ‘kleiner Mann’ so alles erreichen kann: Skills und eben Internetruhm. Und auf die Art können wir uns alle mit dem kleinen Skater identifizieren und davon träumen, ebenso groß rauszukommen.

Ein weiteres gutes Beispiel ist der Poetry-Slam von Julia Engelmann, der wahrscheinlich ohne großen Seeding-Aufwand viel Aufmerksamkeit erzielte. Die Form ist hier relativ unspektakulär, so dass in erster Linie der Inhalt für die beeindruckende Viralität verantwortlich zu sein scheint. Der Beitrag von Julia Engelmann trifft in hohem Maße das Lebensgefühl ihrer Generation, im Grunde die Stimmungslage in unserem Land insgesamt. Glaubwürdig und rührend gibt sie der Ambivalenz Ausdruck: die Angst angesichts der allgegenwärtigen Krisen auf der einen, und die Sehnsucht nach echtem Leben, Leidenschaft und Risiko auf der anderen Seite. Allein der Tonfall ihrer Stimme macht klar, dass die tatsächliche Umsetzung der Abenteuer, von denen sie und wir alle träumen, nicht leicht ist. Zugleich beweist sie mit ihrem Auftritt, dass sich ein Wagnis lohnen kann. Insofern vermittelt dieses Video eine Erfahrung, die in hohem Maße kulturrelevant ist.

Das Video von Julia Engelmann war schon ein halbes Jahr alt, bevor der Blogger Kai Thrun es teilte. Und erst damit löste er den ganz großen Erfolg von Engelmann aus. Gezieltes Seeding war das in diesem Fall nicht. Aber ist es denn inzwischen überhaupt noch möglich, ohne ein solches Seeding ein Video zum Viral zu machen?

Ich glaube schon, dass ein Video auch ohne Seeding viral werden kann. Die Frage ist ja auch, ab wann man von viral sprechen will. Der Clip von Julia Engelmann ist ja ein gutes Beispiel dafür, dass es wohl auch ohne Seeding geht. Das Seeding hilft vor allem, schnell eine sehr große Verbreitung zu erzielen, die wiederum das Video zu einem Massen- und im besten Fall Medien-Thema macht. Dann erhält es auch jenseits des Netzes Aufmerksamkeit, was gerade für eine Werbebotschaft natürlich von großem Interesse ist.

Passt das Vorhaben, ein Viral zu erzeugen, zu jeder Marke und zu jedem Unternehmen?

Grundsätzlich sind der Kreativität ja keine Grenzen gesetzt. Daher können sicherlich auch für viele Branchen, Unternehmen und Marken sinnvolle Clips entwickelt werden. Es sollte jedoch unbedingt nicht allein auf die Awareness gesetzt werden, die häufig allein durch schrille, aufmerksamkeitsstarke Formen zu erzielen gesucht wird, die dann eben wiederum nicht zu allen Branchen und Marken passen.

Es ist wichtig für Marken, jenseits der Awareness produkt- und markenrelevante Botschaften zu vermitteln, also auch Relevanz im jeweiligen Produktfeld zu erzielen. Bei dem EDEKA-Spot mit Friedrich Liechtenstein wurde die Passung oft angezweifelt. Aus meiner Sicht passt er jedoch sowohl zur Branche als auch zur Marke. Zum einen werden die Produkte, die man ja alle bei EDEKA kaufen kann, sehr sinnlich wie in einer Tagtraumwelt dargestellt. Die Milch ist so lecker, dass er sogar darin baden will. Zum anderen zeigt die eher konservative Marke, dass sie jung und frisch geblieben ist, und die fast weihevolle Marken-Botschaft ‘Wir lieben Lebensmittel’ wird mit einem Augenzwinkern in ‘Supergeil’ gesteigert.

Dass „First Kiss“ ein werbliches Video ist, wurde vielen Menschen erst im Nachhinein bewusst. Die Filmemacherin Tatia Pilieva hat mit „Undress Me“ einen Nachfolger gedreht. Dieser hat gegenüber „First Kiss“ (über 89 Millionen Klicks) derzeit „nur“ knapp 12,9 Millionen Klicks. Werden es Videos in Zukunft schwerer haben, viral zu gehen, weil die Verbraucher die Marketing-Strategien mittlerweile eher erkennen?

Schwerer wird es, weil es immer mehr geben wird. Und grundsätzlich ist es ja nicht so, dass die Menschen Werbung ablehnen. Gute Werbung wird im Fernsehen, im Kino und auch im Netz honoriert. Wichtig ist nur, dass die User nicht dreist ausgetrickst oder für dumm verkauft werden. Und das wird sowieso immer weniger möglich sein, weil im Netz jeder sein eigener Marketeer ist. Das Internet ist ein bisschen wie Privatfernsehen: Es gibt alles umsonst, sodass mit Werbung und Sponsoring in gewisser Weise gerechnet wird. Werbung beglaubigt zum Teil sogar die Qualität des Contents, da sie in der Erwartung der Verbraucher nur im Umfeld ausgewählter Inhalte platziert wird. Ein Blogger, der einen Werbevertrag hat, scheint bereits ein gewisses Standing erreicht zu haben.

Dass die Marke WREN der Absender des First-Kiss-Videos ist, hat außerhalb der Medien keinen Aufschrei provoziert. Vielmehr ist diese Absenderschaft stimmig und fast sinnvoll, denn die Zuschauer können sich die beeindruckende Abenteuerlust der Protagonisten direkt nach Hause bestellen und ein Stück weit aneignen.

Ganz aktuell hat SIXT ein werbliches Video mit Roberto Blanco ins Netz gestellt, das aber weit davon entfernt ist, sich viral zu verbreiten – obwohl es offensichtlich genau dafür produziert wurde. Wie ist Ihre Meinung zu dem Spot?

Interessant ist ja, dass hier offensichtlich produktionstechnisch nicht gekleckert wurde: aufwendig gedreht, den Look des Genres getroffen, viel Sex Appeal, ordentlich gereimt und auch noch ein bekanntes Gesicht. Trotzdem scheint der Spot wenig Resonanz zu finden. Mich persönlich hat er auch weitestgehend kalt gelassen. Zentral ist Roberto Blanco, der sicherlich stark polarisiert und im Grunde schon tief gesunken ist. Trotz Selbstironie gelingt es nicht, ihn in etwas Positives zu drehen.

Viel kritischer aber finde ich, dass sich SIXT hier als Notlösung für Arme inszeniert und den Mietwagen als gemietetes Status-Symbol für Poser entlarvt. Auch wenn das offensichtlich ironisch gemeint ist, droht die Botschaft durchaus beim Betrachter hängen zu bleiben und der Marke zu schaden.

Abschließend: Wie sieht die virale Zukunft aus?

Der Erfolg von Virals wird derzeit ja meistens allein an der Sharing- oder Klick-Rate festgemacht. Interessant wären sicherlich noch andere Kriterien. Etwa das Involvement der User, die Rate derer, die das Video vollständig sehen, welche Nachwirkung der Clip hat oder welche Imageprofilierung für die Marke, die ein Viral ins Netz stellt, daraus resultiert.

Die Masse an viralen Inhalten wird weiter zunehmen, es wird von allem mehr geben. Daher glaube ich, dass es immer mehr darum gehen wird, Qualität zu produzieren. Qualität im Sinne der oben beschriebenen Wirkungsfaktoren, also dem Viral als Mini-Drama, das die Menschen in ihren Tagträumen abholt, sie inhaltlich verwickelt und berührt. Insofern erwarte ich aufwendigere, kunstvolle Produktionen, obschon Julia Engelmann oder der Junge auf dem Skateboard uns ja auch bewegen.

Herr Buggert, vielen Dank für das Interview!

// Unsere Top 5 der viralen Videos aus den letzten zwölf Monaten

Über den Autor

Daniel Weissleder arbeitet als Project Manager Online/Social Media in der Kundenberatung der Agentur. Er berät und betreut Unternehmen an der Schnittstelle von Journalismus, Public Relations und digitaler Kommunikation. Daniel liebt elektronische Musik, begeistert sich für Borussia Dortmund und den Motorsport – am liebsten ist er live im Stadion dabei oder steht an der Rennstrecke. Für das OSK Blog steht er im ständigen Dialog mit Branchenkollegen und Meinungsmachern und berichtet über neue Entwicklungen in der Netzwirtschaft sowie besondere Phänomene in der Online-Welt.

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