Digitalisierung und neue Technologien haben den Journalismus heftig durchgeschüttelt. Die Medienwelt befindet sich im Umbruch. Ein Patentrezept, wie Journalismus in Zukunft aussehen und profitabel funktionieren wird, ist noch nicht gefunden. Das hat auch die OSK-Interviewreihe zur Zukunft des Journalismus gezeigt. Aber es gibt Beispiele für erfolgreiche Ansätze – etwa den von VICE News. Sterling Proffer, seit 2014 Geschäftsführer von VICE News, und Kevin Sutcliffe, der 2013 als Leiter des Nachrichtenprogramms zu VICE News stieß, haben erkannt, was nötig ist, um online im Nachrichten-Sektor ein großes Publikum anzusprechen.

Der 2013 gegründete Nachrichten- und Reportage-Kanal von VICE hat mit Dokumentationen wie „Road to Mosul“ große Publikumsresonanz erzielt, vor allem bei jungen Menschen. Jeder der drei Doku-Teile auf dem YouTube-Kanal von VICE News erzielte weit über 100.000 Klicks, die 43-minütige Gesamtfassung wurde über 280.000-mal angesehen. Zahlen, von denen deutschsprachige Nachrichten-Medien auf YouTube nur träumen können. Rund ein Jahr nach dem Start zählt der YouTube-Kanal gut knapp 1,5 Millionen Abonnenten und mehr als 260 Millionen Video-Aufrufe. 75 Prozent der Zuschauer von VICE News sind zwischen 18 und 34 Jahre alt.

Kevin Sutcliffe und Sterling Proffer 1Kevin Sutcliffe (l.) und Sterling Proffer erklären das Erfolgskonzept von VICE News

Der Erfolg von VICE News widerlegt die vielfach vorherrschende Meinung, dass junge Leute kein Interesse an längeren Nachrichten hätten und im Internet nur kurze Stücke Sinn machen würden. Drei Minuten galten vielen als das Maximum. Stimmt so offenbar nicht: Die Länge spielt anscheinend keine bestimmende Rolle. Im Gegenteil, die Wiedergeburt der langen Geschichten scheint vollzogen. Die Storys müssen vor allem richtig im Sinne des Publikums erzählt und aufbereitet werden. Es gilt, etwas Neues auszuprobieren. VICE News-Geschäftsführer Sterling Proffer und Nachrichten-Chef Kevin Sutcliffe wissen, dass es Mut braucht, um neue Zielgruppen zu erreichen, wie sie im Juni auf der INTERACTIVE COLOGNE erklärten.

Das Comeback des Langform-Journalismus – immersiv und mit Blick auf das Drumherum

„Wir haben es einfach versucht und längere Videos hochgeladen. Unser Grundgedanke war dabei: Okay, wenn Videos mit einer Länge von 20 bis 30 Minuten oder auch nur von sieben bis acht Minuten gut laufen, scheint es Interesse daran zu geben“, erklärt Kevin Sutcliffe. Dabei helfe es enorm, YouTube und die Website als Plattformen für Videos beliebiger Länge zu sehen. „Uns ist aufgefallen, dass die Zuschauer durchaus bereit sind, ihre wertvolle Zeit in längere Lese- und Videostücke zu investieren“, ergänzt Sutcliffe. Bei den traditionellen Medien, seinem Herkunftsbereich, sei das nicht der Fall gewesen. Er betont: „Spricht man das Publikum richtig an, ist es da und hört zu, wenn man was zu sagen hat.“

Sterling Proffer“Wenn man was zu sagen hat, hört das Publikum zu”, ist Sterling Proffer sich sicher.

Im Falle von VICE News gehören zur „richtigen“ Ansprache Ingredienzien wie die immersive Art des Erzählens – Eintauchen in das Geschehen vor Ort und aus der Ich-Perspektive. Und das weitgehend ungefiltert. Ein Kennzeichen der Beiträge von VICE News ist auch, dass der Blick hinter die Kulissen gerichtet wird. Sutcliffe: „Es ist ein bisschen so, als ob man die Kamera zurückzieht und zeigt, was wirklich um eine Story herum passiert.“

Kernelemente: Authentizität, Glaubwürdigkeit und auf keinen Fall langweilen

Mit seinen Nachrichten will VICE News den Zuschauern eine authentische Erfahrung bieten. Authentizität als journalistische Währung. Dabei gilt es, glaubwürdig zu sein und zu bleiben. Was auf keinen Fall geht: langweilen. „Man kann die junge Generation nicht mit Nachrichten erreichen, wenn die Nachrichten langweilig sind“, erklärt Sterling Proffer eines der Erfolgsprinzipien. „Keine Generation lässt sich mit irgendwas erreichen, wenn es langweilig ist.“ Die größte Herausforderung sei dabei, einen Weg zu finden, bei dem man seine Glaubwürdigkeit nicht für den schnellen Klick aufs Spiel setze, sondern diese beim Publikum dauerhaft aufbaue. „Wir verfolgen dieses Ziel durch die gleichbleibende Qualität unserer Berichterstattung“, so der VICE News-Geschäftsführer.

Möglichst viele Banner-Anzeigen zu schalten – darauf lege VICE News keinen Wert. Auch das gezielte Ausnutzen von Algorithmen rein im Sinne besserer Auffindbarkeit und höherer Reichweite liegt den VICE News-Machern fern. Sie seien kein Data-First-, sondern ein Data-Informed-Unternehmen. „Natürlich verstehen wir und achten auf Algorithmen, aber wir lassen uns von ihnen nicht unsere Strategie und unsere Stimme vorgeben“, so Proffer. „Es ist unsere feste Überzeugung, dass – obwohl das Knacken des Algorithmus kurzfristig Vorteile verschaffen kann – am Ende des Tages immer die Qualität einer Geschichte siegen wird.“ Das erklärte Ziel in diesem Zusammenhang: Die Dynamik des Internets verstehen und diese nutzen, um ein besseres, informierteres Publikum zu schaffen.

Kevin Sutcliffe und Sterling Proffer 2Für die beiden VICE-Männer ist klar: Authentizität – das ist es, was die Zuschauer wollen.

„Mit VICE News zeigen wir, dass Qualitätsjournalismus auch aus der Ich-Perspektive und auf eine sehr immersive Art und Weise funktioniert. Ich denke, das ist der zukunftsweisende Weg für hochwertigen Video-Journalismus“, betont Kevin Sutcliffe. Der Erfolg hänge dabei von sehr altmodischen Dingen ab: „Menschen müssen Vertrauen in dich haben und verstehen, dass dein oberstes Gebot ist, Sachverhalte authentisch wiederzugeben.“

Es gehe vor allem um die Authentizität der Erfahrung: „Menschen wollen dabei sein, und wenn sie nicht an einem bestimmten Ort sein können, wollen sie zumindest verstehen, was wirklich vor sich geht. Sie wollen das Gefühl haben, etwas zu sehen oder zu lesen, was authentisch ist“, erklärt der Europa-Verantwortliche von VICE News.

Experimentierfeld: Neue Technologien für neue Möglichkeiten des Storytellings

Um Geschichten möglichst authentisch erzählen zu können, spielt VICE News auch mit neuartigen Technologien wie Virtual Reality. Mit ihr hätten sie jetzt schon einige Zeit experimentiert, so Sterling Proffer. Zwar sei der Zugang der breiten Masse zur VR-Technologie noch nicht gegeben und sie sei auch noch umständlich zu benutzen, aber sobald das einfacher werde, „liefert VR die immersivsten und fühlbarsten Erlebnisse“, ist Proffer zuversichtlich. Ein Beispiel für die Experimentierfreude von VICE News: Das VR-Erlebnis des Reporters Chris Milk in einem syrischen Flüchtlingslager (Die Reportage lässt sich kostenlos über die App VRSE für iOS und Android herunterladen, Anm. d. Red.).

Kevin SutcliffeKevin Sutcliffe„Unser Publikum antwortet umgehend, wenn wir etwas veröffentlichen.”

Neue Formen des Storytellings auszuprobieren und andere Wege in der Kommunikation mit dem Publikum zu gehen war auch ein wesentliches Motiv für VICE, als eines der ersten Medienunternehmen der Plattform Snapchat Discover beizutreten. Laut Proffer ist das Engagement bisher sehr erfolgreich.

Die Spielregeln ändern sich: Neuen digitalen Medienanbietern wie VICE News offeriert sich die Möglichkeit, dass die Qualität der abgelieferten Arbeit über die Größe des eigenen Publikums entscheidet. Inklusive Engagement und Feedback. „Unser Publikum antwortet umgehend, wenn wir etwas veröffentlichen. Es lässt sich von den Inhalten fesseln. Reaktionen folgen fast unverzüglich. Wir kriegen also sofort mit, was sie denken“, erklärt Kevin Sutcliffe.

Ausblick: Neue Erzähl-Freiheiten durch Multimedia-Einsatz – aber bitte gekonnt

„Eine Sache, die uns reizt und von der wir glauben, dass sie einer neuen Generation von Journalisten nur nützlich sein kann, ist der sichere Umgang mit verschiedenen Medien(platt)formen“, wagt Sterling Proffer einen Blick nach vorne. Der Aufstieg des Multimedia-Storytellings habe Journalisten die Freiheit gegeben, das Format zu wählen, das die Geschichte am besten wiedergibt. Einem Video-Journalisten stehe nur ein Werkzeug zur Verfügung, während ein Multimedia-Journalist mehrere Kanäle bespielen könne. Gleichzeitig schickt der Geschäftsführer von VICE News eine Warnung hinterher: „Das Internet ist voller Journalisten, die eigentlich nicht damit umgehen können. Das Publikum bemerkt das sofort.“

Über den Autor

Carsten Christian ist studierter Journalist und Kommunikationswissenschaftler, seinen Master-Abschluss hat er an der Uni Hamburg gemacht. Bevor er zur Agentur kam, war der Digital Native mehr als zwei Jahre für die Online- und Print-Ausgabe der Ruhr Nachrichten im Einsatz. Bei OSK arbeitet er als Team Lead Digital Content, auf dem Agentur-Blog schreibt Carsten über den Medienwandel und Trends im Bereich Digital-Kommunikation. Privat verfolgt er Neuigkeiten in der Videospiel- und Gaming-Szene und greift auch selbst zu Maus und Gamepad.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.